31.12.05

neujahr

Banges Neujahr

Das tiefere Rot der Hyazinthe die stirbt:
die Schwermut steigt in dem Stengel,
ihr dunkler Saft
Pegel das Tods in der Dolde.

Weihnachten ist dahin,
alle Kerzen sind niedergebrannt,
Wachsflecken auf dem Tischtuch.
Das Kind, das Neue Jahr,
regt sich nicht in der Krippe.
Wir warten auf sein Lächeln,
wir warten auf seinen Schrei,
wir halten den Atem an vor Angst.
Die Nacht ist so nass,
so sternenlos,
die Reiser blühn,
die Hyazinthe stirbt.
Das Wunder
- kaum ein Glänzen am Horizont -
geht in weiter Ferne vorüber.
Hilde Domin

...
Die Erde hat sich einmal zu oft gedreht.
Es hat nichts genutzt,
daß eine alte Frau
drei Gräser um meinen Fuß band,
als sei ich ein krankes Fohlen.
Ich bin aufgestanden
mit Narben.

Wenn du warten willst,
bis ich bin, wie ich war,
mußt du warten, bis ich sterbe.
Die Toten, sagt man, haben ein glattes Gesicht
und erfüllen uns jeglichen Wunsch.
Sie sind heiter wie der Himmel im Frühling.
...
Hilde Domin

...
Du wirst die Geste noch machen,
fast alle machen ja nichts als die Geste.
Leben heißt höflich sein,
kein Spielverderber.
Du ißt das Eis, das man dir in die Hand gibt,
du lächelst, weil alle lächeln,
fast alle machen die Geste der Freude
für die andern.
Gestern hast du gelacht,
weil du gelacht hast.
Du mußt es weiter tun,
du darfst niemand enttäuschen.
Viele Tage werden auch blau sein.
Es gibt immer
blaue Tage
wo Lachen leichter ist,
beinah wie früher -
beinah.
Keiner außer dir kennt die kleine Linie,
den Strich auf dem Boden,
den riesigen Strom, den du nie mehr
überquerst.
Hilde Domin

29.12.05

lebenszahlen

Das Jahr fing schlecht an, zur Mitte hin wurde es noch schlechter, am Ende ist es richtig schlecht.

In diesen Tagen hofft der Mensch, dass das neue Jahr besser wird. Als ob eine Zahl, die dem Jahr zugeordnet ist, Veränderung bringen kann. Aber Zahlen setzen eben auch Zäsuren. Eine neue Zahl für das Jahr lässt uns hoffen auf Besseres. Eine neue Zahl für das Lebensalter lässt uns eine Zeit lang hoffen, erwachsen, freier, besser zu werden, und irgendwann schlägt es um, so dass die neue Zahl für unser Lebensalter uns verzweifeln lässt ob der nichtgenutzten Möglichkeiten, der Fehler, die man beging, der Unwiderruflichkeit der Folgen dessen, was man tat oder nicht tat. Geplatzte Träume versperren die Sicht. Die eigenen Gespenster tanzen durch die Räume. Entsetzliche Gedanken verwandeln den Herzschlag in ängstliches Hüpfen und treiben die Seelennot soweit, dass die Traurigkeit in den Augen nicht mehr zu verbergen ist.

08.12.05

d.

Ich habe D. wiedergefunden. Sie ist wieder in meinem Leben - nach Jahrzehnten. Und es ist phantastisch. Sie war meine beste, allerwichtigste Schulfreundin. Von der dritten bis zur neunten Klasse. Wir haben soviel zusammen gelacht, gedacht, gemacht.

Ich habe damals die Freundschaft beendet. Wusste nicht, wie man das Leben auf einen anderen Weg bringt, ohne gleich alles zu zerstören. Wusste nicht, dass vieles parallel laufen kann, dass nichts ohne Kompromisse geht, dass keine Beziehung fehlerlos ist ...

Wir trafen uns manchmal zufällig, redeten kurz und gingen wieder auseinander. Bis dann eines Tages wieder eine Annäherung möglich war. Wieder eine zufällige Begegnung. Nach einem langen Tag im Büro ging ich zum Friseur, und dort sass D. und las ein Buch: Erich Kästner "Fabian". Mein Herz ging auf. Wer bitte liest beim Friseur so ein Buch - ausser D. und mir und sehr sehr wenigen anderen. Beide waren wir müde und hatten zuviel gearbeitet und lasen seltsame Bücher an unliebsamen Orten. Und dann haben wir geredet und geredet. Und soviel gelacht, das wir strafende Blicke bekamen - als ob wir wieder die Kinder wären, die zu laut, zu fröhlich, zu unangepasst durch das Leben gingen.

Seitdem treffen wir uns, telefonieren, schreiben, mailen. Wenn ich sie nur am Telefon höre, wird mir das Herz leicht, reden wir, schweben wir sofort auf einer höheren Ebene. Es ist noch alles da, das tiefe Einverständnis, das gleiche Fühlen und Denken, diese Feinnervigkeit, die Gedankenblitze, das Spontane, das Anarchische, das Unangepasste (das wir aber, anders als in der Kindheit, wahlweise hinter der Maske der Angepasstheit gut verstecken können).

Mit wenigen Menschen findet man eine solche vorbehaltlose Übereinstimmung. Um diese Seltenheit weiss man erst spät im Leben, da hat man meist schon einige verloren ...